Oktober 2021
Neue Demonstrationen und Streiks der niederländischen Registerdolmetscher/innen
Nach einer pandemiebedingt vorübergehenden Abschwächung sind die in den Niederlanden staatlich registrierten Rechtsdolmetscher und Übersetzer nun wieder sehr aktiv, was den politischen Kampf für angemessene staatliche Honorarsätze und eine faire Auftragsvergabepraxis angeht.
Am 21. September hat Fedde Dijkstra, einer der nur drei in den Niederlanden staatlich registrierten Dolmetscher für die friesische Sprache und zugleich Registerdolmetscher und -übersetzer für die deutsche Sprache, bekannt gegeben, dass er an diesem Tag seinen letzten Dolmetschereinsatz für Friesisch absolvieren werde, sofern nicht entsprechend einer neuen gesetzlichen Regelung tatsächlich über das Dolmetscherhonorar verhandelt werden könne, was von den zuständigen staatlichen Stellen bisher gesetzeswidrig verweigert werde.
Bei diesem letzten Dolmetscheinsatz war auch das friesische Regionalfernsehen dabei. Am 13. und 14. November wurde landesweit ein Dokumentarfilm zum Thema 70 Jahre Friesisch im Gerichtssaal ausgestrahlt. Die beiden anderen Registerdolmetscher für Friesisch haben sich mit Fedde Dijkstra solidarisch erklärt. Da 70 Jahre Friesisch im Gerichtssaal groß gefeiert werden sollten, war in Friesland nun die Hölle los. Die Sache wurde in Friesland zum Medienereignis, das auch bei den landesweiten Medien nicht unbemerkt blieb.
Dieses großes Medieninteresse haben sich die assoziierten Registerdolmetscher und -übersetzer (Orde van Registertolken en -vertalers) zunutze gemacht und spontan eine Aktionswoche organisiert: Sie haben alle Registerdolmetscher und -übersetzer in den Niederlanden aufgerufen, mit den Justizbehörden IMMER über ALLES zu verhandeln. Über den Honorarsatz, über Wartegeld, über Abend- und Wochenendtarife, über Parkgebühren, über die Vergütung von Reisezeit und Reisekosten. Solange es zu keiner Einigung zwischen Dolmetschern/Übersetzern und Auftraggebern kommt, wurden und werden keine Aufträge angenommen. In der Praxis hat sich niemand mit den Justizbehörden geeinigt und wurden keine Aufträge ausgeführt.
In den vergangenen Wochen haben die niederländischen Kollegen nun vor verschiedenen Gerichten und Gerichtshöfen in Leeuwarden, Arnhem, Den Haag und Amsterdam demonstriert. Hierbei erhalten Sie inzwischen auch Unterstützung aus der niederländischen Anwaltschaft, die sich durch öffentliche Unterstützungserklärungen mit den Registerdolmetschern und -übersetzern solidarisiert.
Hierüber haben viele landesweite Zeitungen berichtet. Auch im friesischen Rundfunk und Fernsehen wurde der Aktion große Beachtung geschenkt. Am Donnerstag hat der Parlamentarier Van Nispen (SP) in der zweiten Parlamentskammer der Niederlande (Tweede Kamer) einen Antrag auf Indexierung der jahrzehntelang unveränderten Honorartarife für Übersetzer und Dolmetscher eingereicht. Am 26. Oktober wird über diesen Antrag abgestimmt werden. Sollte die Indexierung beschlossen werden, käme es zu Anpassung der Honorartarife auf ein Niveau, das weitgehend dem in Deutschland entspräche. Der zuständige Justizminister Sander Dekker (VVD) hat den Parlamentsfraktionen allerdings davon abgeraten, den Antrag zu befürworten.
- Ansprache des Rechtsanwaltes R. Malewicz bei der Demonstration der Registerdolmetscher und -übersetzer, mit deutschen Untertiteln von unserer Kollegin Franziska Bilz
- Video über Parlamentsdebatte in der Tweede Kamer in Den Haag betreffend den Oppositionsantrag auf Erhöhung der Vergütungstarife der Registerdolmetscher und -übersetzer (Tolken en Vertaler)
- Medienberichterstattung in NL über die zuletzt stattgefundene Arbeitsniederlegung der Gerichtsdolmetscher
- Video-Botschaften diverser Streikteilnehmer zu den Arbeitsbedingungen und der miserablen Vergütung der Registerdolmetscher sowie zur Bedeutung des Rechtsdolmetschens für den Rechtsstaat
- Tweet von uepo.de (25.10) „Die belgischen Gerichtsdolmetscher vom BBVT (@BBVTUPTIA) solidarisieren sich mit den streikenden niederländischen Kollegen. Sie übernehmen nicht deren Ladungen, obwohl einige Belgier von niederländischen Gerichten bereits angefragt wurden.“ (https://www.omropfryslan.nl/nieuws/1101505-belgische-tolken-zijn-solidair-met-actievoerende-tolken)
- Tweet von uepo.de (26.10) „Heute (26.10.) wird in Den Haag über den Antrag des Abgeordneten Michiel van Nispen (Socialistische Partij, 9 von 150 Sitzen) abgestimmt, die Honorare der Gerichtsdolmetscher und -übersetzer „deutlich anzuheben“ (seit 1981 bzw. 1963 unverändert) und künftig zu indexieren.“ und am 27.10. „Für den Antrag hat ein bunter Mix von links bis rechts (einschließlich Geert Wilders) gestimmt, nämlich 15 der 19 Fraktionen, also die gesamte Opposition. Hat leider nichts gebracht, weil die etwas mitgliederstärkeren Regierungsfraktionen von VVD, D66, CDA und CU dagegen waren.“
Der Streik der niederländischen Registerdolmetscher und -übersetzer geht in die dritte Runde
Wie der ADÜ Nord kürzlich von der Leitung der Actiegroep erfahren hat, wird der Streik der niederländischen Registerdolmetscher und -übersetzer ab Anfang März in eine dritte Runde gehen. Zuletzt hatten eine Vielzahl von Dolmetschern bereits von Gerichten angenommene Dolmetschaufträge zurückgegeben und abgesagt. Hierzu muss man wissen, dass eine Rückgabe von Aufträgen in den Niederlanden in der Vergangenheit im Einzelfall meist unproblematisch möglich war und immer wieder vorgekommen ist.
Die nun praktizierte massenhafte Auftragsrückgabe hat in der niederländischen Justiz für erhebliche Unruhe gesorgt und die Generalstaatsanwaltschaft auf den Plan gerufen. Viele Registerdolmetscher erhielten von dort eine überraschend lapidare E-Mail mit dem Hinweis, dass die Absage von Dolmetschaufträgen „eine Form des Vertragsbruchs darstelle und zu Konsequenzen führen könne“. Unabhängig von einer juristischen Bewertung der Auftragsrückgaben und der obigen Reaktion der niederländischen Generalstaatsanwaltschaft zeigten sich erste „Konsequenzen“ bald in der Weise, dass plötzlich sogar Registerdolmetschern bereits erteilte Dolmetschaufträge in anderen Gerichtsbezirken wieder entzogen wurden.
Auffällig ist bei alledem die generalisierende Reaktion der niederländischen Justiz auf den Ausstand der Kollegen in den Niederlanden. Offenbar sind die betroffenen staatlichen Stellen mit den Protesten der Sprachmittler überfordert, sodass man sich nicht anders zu helfen weiß, als zu flächendeckenden und undifferenzierten Sanktionen zu greifen. Noch scheinen die politisch Verantwortlichen in den Niederlanden nicht zu einem nachhaltigen sachlichen Dialog über die Voraussetzungen guter Sprachmittlung in der niederländischen Rechtspflege bereit zu sein. Vielmehr scheinen sie derzeit eine Politik der Einschüchterung zu verfolgen.
Die Kollegen in den Niederlanden sind jedoch fest entschlossen, weiter aktiv dafür zu kämpfen, dass die vom niederländischen Justizminister Grapperhaus in Aussicht gestellte Öffnung des niederländischen Dolmetscherregisters für so genannte „B2-Dolmetscher“, d. h. Personen, die über Kenntnisse in einer Fremdsprache auf dem Niveau B2 des europäischen Referenzrahmens verfügen, nicht stattfindet. Auch sind sie aus Gründen der Qualitätssicherung strikt gegen eine Einführung von vermeintlich nach Europarecht vorgeschriebenen Ausschreibungsverfahren. Sie halten dem Justizminister in diesem Zusammenhang die tatsächlich einschlägige Richtlinie 2010/64/EU entgegen, die den EU-Mitgliedstaaten, also auch den Niederlanden, die Gewährleistung von qualitativ hochwertiger Sprachmittlung in Strafverfahren vorschreibt.
Aufgrund der sachlich völlig verfehlten und geradezu kontraproduktiven Pläne des Justizministers Grapperhaus ist der Grad der Unterstützung der niederländischen Registerdolmetscher für den Ausstand mit 82 Prozent sehr groß.
Zwar wird es demnächst im niederländischen Parlament, d. h. in der Tweede Kamer eine weitere Sitzung zum Kollegenstreik und zum Thema „Sprachmittlung in der niederländischen Rechtspflege“ geben. Bei dieser Sitzung handelt es sich nicht mehr „nur“ um eine Anhörung im Rechtsausschuss, sondern um eine Generaldebatte im Plenum des Parlaments.
Die niederländischen Registerdolmetscher wissen jedoch aus Erfahrung, dass sie ihren berechtigten Anliegen, die der Sicherstellung rechtsstaatlicher Verfahren und damit letztlich der Erhaltung des Rechtsstaats insgesamt dienen, durch weitere konkrete Aktionen Nachdruck verleihen müssen. Sie werden daher ab Anfang März gestaffelt jeweils in zwei oder drei von elf Gerichtsbezirken über einen Zeitraum von einigen Wochen keine staatlichen Dolmetschaufträge mehr annehmen. Dann wird sich zeigen, ob es zu einem Stillstand der Rechtspflege und zu echten Reformen im niederländischen Justizwesen kommt, die diesen Namen verdienen.
Am Aktionstag am 19. Februar hat unser 1. Vorsitzender Jörg Schmidt teilgenommen und berichtet:
„Die 300 angemeldeten Kollegen versammelten sich und gingen vor der Sitzung auf einen spontanen Demonstrationszug um die Tweede Kamer. Auch die Medien sind vor Ort und berichten.
In einer noch nie da gewesenen Breite und Tiefe wurde unter Mitwirkung der parlamentarischen Opposition im Rechtsausschuss erörtert, welche Missstände im staatsnahen Dolmetscherwesen bestehen und welche Reformen nötig sind, um Abhilfe zu schaffen.
Das Interesse und Engagement der betroffenen NL-Kollegen war so groß, dass im Parlament ein neuer Besucherrekord aufgestellt wurde. Es mussten zusätzliche Kapazitäten frei gemacht werden, um alle anwesenden Kollegen als Zuhörer unterzubringen.
Deswegen konnte auch ich trotz früher Anmeldung die Anhörung nur am Bildschirm im Nachbarraum verfolgen.
Die Opposition setze dem
Minister mit vielen kritischen Fragen recht zu, der durch seine sehr
allgemeinen und ausweichenden Antworten eine große Konzeptlosigkeit offenbarte.
Seine Verteidigung beruhte im Wesentlichen darauf, die Forderung der
Sprachmittler nach Qualität pro forma zu unterstützen, im Gegenzug aber ein
Monitoring vorzuschlagen, an dem sich die Sprachmittler jedoch aktiv beteiligen
müssten.
Unser niederländischer Kollege mr. drs. F.B. Dijkstra, Registerdolmetscher und -übersetzer für die Sprachen Deutsch, Friesisch und Niederländisch, schreibt uns am 6. Februar 2020:
Das Aktionsbündnis der niederländischen Registerdolmetscher und -übersetzer (kurz: Actiegroep) ist vergangene Woche im Anschluss an den einwöchigen Ausstand Anfang Januar für weitere vier Tage in den Streik getreten. Alle Teilnehmer haben in diesem Zeitraum keinerlei Aufträge von der Justiz, der Polizei und anderen staatlichen Behörden angenommen. Das bedeutete, dass in den Niederlanden weder telefonisch noch vor Ort für die Polizei gedolmetscht wurde, ebenso wenig bei Zuführungen und Gerichtsverhandlungen oder Haftprüfungen und auch nicht für die Ämter für Migration und Flüchtlinge. Diese Aktion hat bei Behörden und Gerichten offenbar große Probleme verursacht und war somit sehr wirkungsvoll. Es mussten nämlich Dolmetscher aus Belgien geholt und viele unvereidigte Dolmetscher geladen werden. Kollegen erhielten an diesen Tagen auch über die großen Vermittlungsagenturen Anfragen für die bestreikten Dienste, woraus das Aktionsbündnis schließen kann, dass die Dolmetschergeschäftsstellen der Justiz keine Dolmetscher finden konnten. Unsere Streikaktionen waren demnach eindeutig erfolgreich.
Am 19. Februar 2020 findet von 16.30 bis 19.30 Uhr eine Parlamentsdebatte mit dem niederländischen Minister für Justiz und Sicherheit, Herrn Prof. Mr. Dr. Grapperhaus, statt. Noch nie zuvor hat unsere Berufsgruppe im Parlament derart große Beachtung gefunden. Für die niederländischen Registerdolmetscher und -übersetzer wird dieser Tag daher auch der große AKTIONSTAG sein. Es heißt nun: Jetzt oder nie!
Das Aktionsbündnis hat alle in den Niederlanden ansässigen Registerdolmetscher und -übersetzer aufgerufen, an dem Tag in Scharen nach Den Haag zu kommen, um gegen die Pläne des Ministers zu demonstrieren und entsprechend auch keine Aufträge im staatsnahen Dolmetschwesen anzunehmen. Wir demonstrieren an diesem Tag gegen das Vorhaben, Personen auf B2-Sprachniveau in das Register der vereidigten Dolmetscher und Übersetzer aufzunehmen, was einen Verstoß gegen die europäische Richtlinie 2010/64/EU darstellen und den Rechtsstaat untergraben würde. Außerdem fordern wir eine Angleichung der niederländischen Honorarsätze an die in Deutschland nach JVEG geltenden Tarife, die Einführung der Normzeile(!) sowie den Verzicht auf die Einführung von Ausschreibungsverfahren betreffend die staatliche Beschaffung von sprachmittlerischen Dienstleistungen.
Alle Kollegen aus Deutschland, die uns in Den Haag bei unserer Demonstration unterstützen wollen, sind herzlich willkommen. Wir treffen uns am 19. Februar um 14.00 Uhr in Den Haag vor dem Gebäude der Zweiten Kammer an der Adresse Plein 2. Wir haben vor, dem Minister dann auch unsere Resolution mit über 3.000 gesammelten Unterschriften offiziell zu überreichen. Wir hoffen auf mindestens 1.000 Demonstranten – am liebsten natürlich mehr. Wenn Sie uns durch Ihre Teilnahme unterstützen wollen, melden Sie sich bitte über diesen Link an. Machen Sie sich bewusst, dass es unsere Berufsgruppe auch in Ihrem Land vorwärtsbringen würde, wenn wir mit unserer Aktion in unserem Land eine Reform anschieben könnten!
Noch ein wichtiger Hinweis: Wer am 19.02. ins Gebäude der Zweiten Kammer will, muss sich ebenfalls anmelden, und zwar hier. Es dürfen ca. 50 Leute in den Saal, der Rest muss im Foyer bleiben und kann die Debatte über Bildschirme verfolgen.
Meldung vom 16. Januar 2020
Die vereidigten BerufskollegInnen in den Niederlanden fühlen sich vom Staat seit Langem verraten und verkauft. Doch nun haben sie genug. Für sie ist das Maß endgültig voll. Seit dem 13. Januar bestreiken erstmals in der Geschichte mindestens 1.500 von 2.600 der in den Niederlanden amtlich registrierten BerufskollegInnen sämtliche staatlichen Stellen des Landes, darunter insbesondere die Justizorgane. Zur Vorbereitung und Durchführung des Streiks hatte sich eine Aktionsgruppe von KollegInnen („Actiegroep Registertolken en -vertalers“) gebildet. Grund für den Ausstand sind seit Jahrzehnten bestehende und sich zukünftig womöglich noch weiter verschärfende Missstände im Zusammenhang mit der Beauftragung und Vergütung von vereidigten Sprachmittlern durch den niederländischen Staat.
Laut der Actiegroep soll der Streik zunächst eine Woche andauern, jedoch erforderlichenfalls so lange verlängert werden, „bis sich der Minister mit uns zu Gesprächen an den Tisch setzt“. Der gesamte Vorgang hat es auch bereits in die nationalen Medien geschafft. Lesen Sie hier (in dt. Übersetzung), was zum Beispiel auf dem Nachrichtenportal twnews.nl zu dem Sprachmittlerprotest berichtet wird.
Die KollegInnen in unserem Nachbarland haben mit strukturell sehr ähnlichen Problemen wie wir hier in Deutschland zu kämpfen, allerdings ist die vom niederländischen Staat angebotene und bezahlte Vergütung noch niedriger als in Deutschland und soll durch die Einführung eines zentralisierten Ausschreibungssystems sogar noch weiter gesenkt werden.
Auch in den Niederlanden ist das Verhältnis zu den für den Staat tätigen SprachmittlerInnen also in erster Linie durch fiskalische Interessen und staatliche Kostendämpfungsbestrebungen geprägt, während die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen und rechtlichen Vorgaben genügenden Sprachmittlung in der Rechtspflege und darüber hinaus als absolut nachrangig behandelt sind.
Die Actiegroep hat neben einem berufspolitischen Manifest eine Protestresolution und einen Forderungskatalog betreffend eine angemessene Vergütung von für den Staat tätigen Sprachmittlern verfasst. Erfahren Sie hier (in dt. Übersetzung) Einzelheiten zu den kritisierten Missständen und den Forderungen der KollegInnen in Holland.
Der ADÜ Nord e. V. erklärt sich mit den obigen Anliegen der in den Niederlanden streikenden BerufskollegInnen solidarisch und unterstützt ihren Einsatz für bessere berufliche Rahmenbedingungen ausdrücklich. Folgen Sie unserer baldigen weiteren Berichterstattung.